Blind für einen Tag
„Bitte kommen Sie jetzt alle zu meiner Stimme“, sagt jemand in der Dunkelheit.
Eine simple Anweisung mit chaotischen Auswirkungen. Wildes Fuchteln mit dem Stock, gegenseitiges auf die Füße Trampeln. „Simone? Bist du das?“ Aua, nein, das war sie nicht. „Ich bin hier!“. Im Dunkeln gibt mir diese vertraute Stimme Sicherheit, auch wenn sie einige Meter entfernt ist.
Zu Beginn der Führung hat jede von uns das Augenlicht gegen einen Stock eingetauscht. Der soll uns in der nächsten Stunde vor Wänden, Stufen, blauen Flecken und Beulen schützen. Ängstlich klammere ich mich an den Plastikstab.
„Der Stock bleibt immer auf dem Boden! Er ist keine Waffe, sondern dient zur Orientierung“ warnt uns, scheinbar aus dem Nichts, die Stimme von Jürgen, unserem blinden Guide. Jürgen klatscht laut in die Hände, bis auch der letzte aus unserer sechsköpfigen Gruppe anhand des Geräuschs den richtigen Gang gefunden hat. Nun hangeln wir uns gemeinsam an einer Wand entlang in den ersten Raum der Ausstellung. Meine rechte Hand tut weh und schwitzt. Aus Angst, den Stock zu verlieren, habe ich sie völlig verkrampft.

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Wir hören Vogelgezwitscher, plätscherndes Wasser und quakende Frösche. Anscheinend befinden wir uns in der Natur, der Boden ist weich und gibt nach. Es muss eine Mischung aus Gras und Moos sein. Plötzlich stoße ich auf ein Hindernis. Ich strecke die Arme aus und schrecke zurück bei der Berührung mit dem fremden Objekt. Doch nach näherer Ertastung wird aus dem unbekannten „Feind“ ein gewöhnlicher Baum.
Die Verbindung zwischen diesem und dem nächsten Raum ist eine wackelige Hängebrücke. „Keine Angst, haltet Euch rechts an dem Seil fest!“, sagt Jürgen. Das ist einfacher gesagt als getan, erst nach langem Tasten finden meine Hände das Halt gebende Geländer. Alles schwankt hin und her, ich traue mich kaum einen Schritt vorwärts zu gehen. Für Jürgen ist es ein Leichtes, ich spüre, wie er rechts an uns vorbeiläuft, und ahne, dass er am Ende der Brücke auf uns wartet.
In der Dunkelheit ist Jürgen der Sehende. Ohne ihn wären wir aufgeschmissen. Trotzdem bemerke ich, wie allmählich auch bei mir die bisher vernachlässigten anderen Sinne wieder einsetzen. Ich erkenne eine Tanne am Geruch und achte auf jedes noch so leise Geräusch in der Gruppe.
Die Wände des nächsten Raums fühlen sich weich an. Wir dürfen uns setzen oder hinlegen. Klaviermusik setzt ein. Ich kann sie regelrecht spüren. Der Boden vibriert und ich bekomme eine Gänsehaut. Aus den sanften Klängen wird rhythmische Trommelmusik, von Bässen unterstützt. Gespannt warte ich darauf, aus welcher Richtung der nächste Ton kommt. Als die Musik endet, ist es mucksmäuschenstill. Wir müssen aufstehen und den nächsten Raum aufsuchen.
Die kleine Stufe an der Schwelle macht uns mittlerweile keine Schwierigkeiten mehr, wir haben gelernt, unseren Stock richtig einzusetzen. Aber die nächste Herausforderung kündigt sich bereits an. Von weitem hören wir lautes Hupen und Straßengeräusche. Der Raum simuliert eine Innenstadt mit einer stark befahrenen Straße, die wir überqueren müssen. Jürgen lenkt unsere Aufmerksamkeit auf das leise tickende Geräusch der Fußgängerampel. Zum ersten Mal gibt nicht die Farbe des Ampelmännchens, sondern das Tempo des Ampelsignals den Impuls, die Straße zu überqueren.
Auf der anderen Seite umgibt uns ein angenehmer Duft, wir ertasten Körbe. Neugierig greife ich hinein und hole etwas Rundes heraus. Am Geruch erkenne ich, dass es eine Orange ist. Auch in den anderen Körben sind Früchte, wir stehen an einem Marktstand. Als Jürgen uns etwas mitteilen will, wird er von einem lauten Flugzeuggeräusch unterbrochen und muss warten, bis es vorbei geflogen ist. „Wir erreichen jetzt die letzte Station, habt Ihr alle Kleingeld für etwas zu trinken dabei?“ Das Klimpern in den Hosentaschen beantwortet seine Frage.
Jetzt sollen wir uns alle an die Schultern fassen, und Jürgen führt uns wie bei einer Polonaise in einen kühlen Raum mit leiser Fahrstuhlmusik. Eine weibliche Stimme empfängt uns und zählt die Getränke auf, die es in dieser Dunkelbar zu kaufen gibt. Ich entscheide mich für Cola, diesen Geschmack erkenne ich auch blind. Mit der Flasche in der Hand will ich mich zu den anderen setzen und lande vorerst auf dem Schoß einer Unbekannten. Aber dann rücken alle ein Stück zur Seite, damit auch ich noch einen eigenen Platz bekomme.
In der Dunkelheit entsteht ein unbefangenes Gespräch auf gleicher „Augenhöhe“. Nicht abgelenkt von Äußerlichkeiten, kann ich mich auf die Worte konzentrieren, die gesprochen werden. Jürgen beantwortet geduldig unsere Fragen. Er ist blind, seit er 14 ist. Mittlerweile stellt er sich zu den Stimmen, die ihm begegnen, keine Gesichter mehr vor.
Als alle ausgetrunken haben, werden wir zurück ins Tageslicht geschickt. „Macht am Besten erstmal die Augen zu, es wird sehr hell sein“, warnt uns Jürgen und verabschiedet sich von uns. Er bleibt eine Stimme im Dunkeln.
Links zum Thema
- Homepage des Dialogmuseums in Frankfurt
Dialogmuseen weltweit:
- Papalote, Mexico City
- Temple Tartu, AAHA Science Centre, Tokyo
- Speicherstadt, Hamburg
- Teatrali Moncalieri, Torino
Zur Person
Simone Rapp und Lisa an der Heiden studieren Online-Journalismus an der Hochschule Darmstadt.
