August 2005

Freie Fahrt für die embryonale Stammzellforschung?

*In Deutschland mehren sich die Stimmen, die ein rasches Ende der restriktiven Beschränkungen für die embryonale Stammzellforschung fordern. Doch es geht dabei um mehr als das, was Wissenschaftler dürfen sollen.

In seiner Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen warb Bundeskanzler Gerhard Schröder im Juni 2005 für eine „Kultur der Forschung ohne Fesseln“. Ginge es nach dem Kanzler, sollen künftig alle „durch den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt überholten Gesetze bei Bedarf angepasst werden.“ Das gilt für Schröder insbesondere im Fall der embryonalen Stammzellforschung. Die ist in Deutschland zwar erlaubt, jedoch ausschließlich und unter strengen Auflagen an importierten Stammzelllinien, die vor dem 1. Januar 2002 als Abfallprodukt künstlicher Befruchtungen angefallen sind (im Klartext: an Stammzellen aus überzähligen menschlichen Embryonen).

Was ist in Deutschland erlaubt?
Die bisherige Gesetzeslage in Deutschland – in erster Linie das Embryonenschutzgesetz (ESchG) vom 13. Dezember 1990 bzw. das Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 – verbietet neben der missbräuchlichen Anwendung von Fortpflanzungstechniken auch das Klonieren menschlicher Embryonen (§ 6). Als Embryo definiert § 8 des ESchG „bereits die befruchtete, entwicklungsfähige menschliche Einzelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an, ferner jede dem Embryo entnommene totipotente Zelle“.

Von Seiten der Wissenschaft erhielt Schröder erwartungsgemäß starken Beifall. Hubert Markl, ehemaliger Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Max-Planck-Institute, forderte in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juni ein Ende der „definitorischen Spitzfindigkeiten“. Ein „Zellhaufen“ sei noch lange „kein vollwertiger Mensch“. Vielmehr müsse man das Leben eines erwachsenen Kranken, dessen Leiden sich durch eine embryonale Stammzelltherapie womöglich signifikant lindern oder gar beseitigen ließe, ethisch höher bewerten als ein paar „ohnehin aufgegebene Embryonen“.

Doch muss eine vermeintlich überalterte Gesellschaft wirklich jede Chance nutzen, ihren Mitgliedern bis ins höchste Alter ein juvenil-agiles Leben zu ermöglichen – und damit auch die Altersgrenze immer weiter nach hinten zu verschieben (eine problematische Spirale, die unser Gesundheitssystem schon heute im Würgegriff hält)? Wollen wir ungewisse und riskante medizinische Heilverfahren für einen hohen, möglicherweise auch zu hohen ethischen Preis? Gibt es keine ethisch unbedenklicheren Alternativen zu diesen Verfahren? Und vor allem: Geht es tatsächlich nur um ein paar „Zellhaufen“?

Keineswegs! In der Stammzellfrage geht es um nichts weniger als die Gesellschaft der Zukunft, die Welt, in der wir leben wollen. Es geht um grundlegende ethische Maßstäbe, um richtungsweisende Entscheidungen und Handlungen, mitnichten also um „Spitzfindigkeiten“. Im forschungspolitisch so viel fortschrittlicheren England wurde vor wenigen Jahren bereits ein Kind unter Einsatz wissenschaftlicher Techniken ausschließlich zu dem Zweck geboren, seinem kranken Geschwister als potenzielle Organbank das Leben zu retten.

Erklärgrafik 1
Wie funktioniert therapeutisches Klonen? Eine interaktive Erklärgrafik.
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Wir dürfen die Antworten auf diese Entwicklungen und Fragen nicht den Politikern und auch nicht unseren Wissenschaftlern allein überlassen – es geht um mehr als das, was übermorgen im Labor passiert. Gerade in der Frage der embryonalen Stammzellforschung sind klare Positionierungen gefragt. In diesem Fall: ein klares Nein! Denn die embryonale Stammzellforschung setzt die massenhafte Herstellung, das heißt Klonierung menschlicher Individuen, voraus.

Doch der Reihe nach: Die in Deutschland verbotene Klonierung embryonaler Stammzellen, das heißt menschlicher Embryonen, wäre ethisch prinzipiell nur aus einem einzigen Grund überhaupt vertretbar: der Erzeugung von Ersatzgeweben für Kranke (therapeutisches Klonen). Die Klonierung menschlicher Embryonen zum Zwecke der Menschenzucht (von Genies oder roboterhaften Hilfsarbeitern), genannt reproduktives Klonen, verbieten nicht nur das deutsche Recht und die Gesetze weiterer Staaten, sie wird auch von nahezu allen Wissenschaftlern und den meisten Menschen weltweit abgelehnt, von ein paar unverbesserlichen Spinnern abgesehen. So weit so gut.

Doch tut sich auch im Fall des therapeutischen Klonens ein ethisches Dilemma auf: Das Lebensrecht von – zum Beispiel an Alzheimer – Erkrankten und ihr Anspruch auf medizinische Hilfe oder Linderung von Schmerzen steht der Würde des Embryos und seinem Recht auf Schutz und Unversehrtheit gegenüber. Die Befürworter des therapeutischen Klonens bezeichnen die Forderung nach Einstellung der Stammzellforschung als unmoralisch oder – wie der Pionier der Stammzellforschung, John D. Gearhart – als „Affront“ gegenüber den Menschen, denen eine Stammzelltherapie möglicherweise helfen könnte. Das Lebensrecht eines erwachsenen, akut gefährdeten Patienten wird also ethisch höher eingestuft als die Würde und Unversehrtheit der zur Herstellung von Stammzellen zerstörten oder zu zerstörenden Ungeborenen. Das entsprechende Argument lautet: Bei den zur Gewinnung von embryonalen Stammzellen verwendeten Embryonen beziehungsweise Zygoten handele es sich im biologischen Sinn noch nicht um menschliche Individuen, sondern eben um bloße „Zellhaufen“. Denn der Embryo ist bis zum Verlust der Totipotenz der Blastomeren (und sogar darüber hinaus) faktisch ein Dividuum. Es kann jederzeit zu Mehrlingsbildungen (Zwillinge, Drillinge etc.) kommen. Daher, so die Schlussfolgerung, dürfe man ihn bis zum endgültigen Verlust der Teilungsfähigkeit beziehungsweise bis zur Ausbildung des so genannten Primitivstreifens, das heißt bis zum 14. Tag nach der Befruchtung, auch ohne moralische Bedenken als Objekt betrachten und für Forschungs- beziehungsweise Heilungszwecke verbrauchen.

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Grafiken (5):
www.solaris100.com

Dieses empirische Argument hat einen – entscheidenden – Haken: Es entbehrt einer wirklich befriedigenden empirischen Grundlage. Wären wir nämlich eines Tages dazu in der Lage, die embryonale Entwicklung künstlich derart zu beschleunigen, dass die Ausbildung des Primitivstreifens bereits am 7. Tag nach der Befruchtung stattfände, wäre die Forschung an menschlichen Embryonen schon zu diesem Zeitpunkt ethisch und rechtlich völlig unbedenklich. Der biologische Begriff von Individualität operiert mit willkürlichen Festlegungen auf spezifische Ereignisse der Embryogenese. Er beruht letztlich auf einem so genannten naturalistischen Fehlschluss: Aus bestimmten naturwissenschaftlichen Befunden werden unzulässigerweise normative Qualitäten und Folgerungen abgeleitet. Philosophisch kann man Individualität oder Personalität je nach Standpunkt ebenso unterschiedlich definieren. Zum Beispiel als Fähigkeit, sich selbst zu vertreten. In diesem Sinne wären einjährige Säuglinge dann keine menschlichen Individuen, was unserem Alltagsverständnis absolut widerspricht. Einer Blastozyte hingegen wollte man tatsächlich wohl kaum so etwas wie Personalität zusprechen.

Embryogenese
Wie entwickelt sich ein Embryo? Was sind die einzelnen Stadien?
» siehe Glossar

Wer so – biologisch oder philosophisch – argumentiert, wird sich wahrscheinlich schnell dem Kanzlerwillen anschließen und der embryonalen Stammzellforschung freie Fahrt wünschen.

Doch das ethisch entscheidende Kriterium, ob es sich bei einem „Zellhaufen“ um ein menschliches Individuum handelt oder nicht, ist weder der Ontogenese zu entnehmen noch eine Frage spezifischer Person-Merkmale. Das entscheidende Kriterium für Menschsein ist die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies. So betont auch Artikel 1, Absatz 1 des Grundgesetzes die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, nicht der Person. Das heißt, die Würde des Menschen wird dem Menschen gerade unabhängig von bestimmten Eigenschaften, Merkmalen oder Fähigkeiten zugesprochen – und zwar von Beginn des menschlichen Lebens an. Dieser Beginn aber, und das ist für die weitere ethische Beurteilung der Stammzellforschung von entscheidender Bedeutung, kann unter biologischen Gesichtspunkten nichts anderes sein als die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Ab diesem Zeitpunkt entsteht und entwickelt sich ein neues, genetisch einmaliges menschliches Lebewesen, ganz gleich, ob es sich dabei zunächst um einen „Zellhaufen“ handelt oder, später, um ein kleines Kind.

*Und hier nun setzt die entscheidende Kritik an der embryonalen Stammzellforschung an, denn das Verfahren zur Herstellung von embryonalen Stammzellen ist mit dem Verfahren der reproduktiven Klonierung technisch weitestgehend identisch. Wer therapeutisches Klonen sagt, meint im Grunde nichts anderes als reproduktives Klonen, also die technische Herstellung von menschlichen Lebewesen, deren Zerstörung, man kann natürlich auch sagen: Tötung, absichtsvoll in Kauf genommen wird, um das Leben eines anderen menschlichen Lebewesens durch eine – noch dazu umstrittene – medizinische Therapie zu verlängern oder zu erleichtern. Letzteres ist ethisch nicht vertretbar, wenn wir uns nicht in einem Gestrüpp aus relativierenden und relativistischen Begriffen von Menschsein und Menschenwürde verfangen wollen. Daraus folgt dann auch, dass wir nicht nur das therapeutische Klonen in Form der verbrauchenden Embryonenforschung zur Stammzellgewinnung, sondern auch den Import von embryonalen Stammzellen zu Forschungszwecken konsequent ablehnen müssten.

Das eingangs erwähnte ethische Dilemma ist damit allerdings nicht aus der Welt: Wie steht es nun mit dem Recht der Kranken auf Linderung oder Heilung ihrer Leiden mit allen technisch und wissenschaftlich verfügbaren Mitteln? Ist es ethisch vertretbar, ihnen vorhandene oder entwicklungsfähige innovative Therapiemöglichkeiten vorzuenthalten oder diese juristisch zu sanktionieren? Wohl kaum. Doch die embryonale Stammzelltherapie ist mitnichten der forschungspolitischen Weisheit letzter Schluss. Es gehört zu den großen Rätseln der Zunft, dass sich deutsche Wissenschaftler vornehmlich um die Weiterentwicklung des Verfahrens der Gewinnung von embryonalen Stammzellen bemühen wollen, nicht jedoch mit derselben Intensität um die Forschung an adulten Stammzellen. Diese sind nicht nur ethisch unbedenklicher, sondern in Bezug auf den konkreten Therapieerfolg vielleicht sogar viel effektiver. Erst kürzlich fand ein Forscherteam an der University of Florida heraus, dass sich aus Nervenstammzellen adulter Mäuse außerhalb des Gehirns und unter Zugabe biochemischer Signalstoffe funktionsfähige Nervenzellen entwickeln lassen. Ließe sich dieses Verfahren auch auf den Menschen übertragen, könnte das einen Durchbruch in der Stammzelltherapie von Alzheimerpatienten bedeuten – ohne dass dafür menschliche Embryonen ihr Leben lassen müssen! Warum also entwickelt Deutschland nicht den forschungspolitischen Ehrgeiz, den anderen Nationen auf dem Gebiet der adulten Stammzellen zu enteilen?

*Das Argument des Kanzlers, man müsse auch deshalb an embryonalen Stammzellen forschen, um in ethischen Fragen zukünftig überhaupt noch mitreden zu können, ist innerhalb der Debatte übrigens nicht neu. Es trifft aber den Kern des Problems. Schröders Ausführungen machen deutlich, wie in Deutschland, aber auch anderswo, die Dinge liegen: Das technisch Machbare übt einen so starken Sog auf alle Beteiligten aus, dass es am Ende – nicht selten ungeachtet möglicher Risiken – auch gemacht wird. Wer garantiert uns, dass embryonale Stammzellen, einmal injiziert, im Körper von Patienten nicht beispielsweise zu Krebszellen mutieren? Günther Anders und andere haben in diesem Zusammenhang vom „Aufforderungscharakter“ der Technik und, so darf man getrost ergänzen, der Wissenschaften gesprochen.

Wissenschaftlicher Fortschritt und technologische Innovationen sitzen – zu Recht! – mit am Tisch, wenn ethische Fragen erörtert werden. Nur scheint ihre Stimme von vornherein doppelt und dreifach zu zählen. „Was dürfen wir tun?“ wird dann häufig von „Was ist machbar?“ ausgestochen. Wer ethische Bedenken ins Feld führt, gerät so automatisch in die Defensive. Angewandte Ethik ist im 21. Jahrhundert des technisch-wissenschaftlichen Zeitalters ein retrospektives Geschäft, das von der Wirklichkeit immer wieder eingeholt wird – meist dann, wenn das berühmte Kind längst mit dem Bade ausgeschüttet ist. Darauf aber sollten wir es nicht ankommen lassen. Nicht in der Stammzellforschung und auch nicht in der Debatte über das normative Fundament unserer Gesellschaft.

 
Lesen Sie hier weiter:

  • Die Welt der Stammzellforschung
    Was sind die entscheidenden Versuche zur Therapieentwicklung? Wo und wann sind sie von wem gemacht worden? Bewegen Sie sich mit der Maus durch die Welt der Stammzellwissenschaft.
  • Therapie für Toleranz
    Embryonale Stammzellen sollen die Ersatzteillieferanten für den menschlichen Körper werden. Doch die Zelltherapie der Zukunft hat einen großen Haken: Für jeden Patienten müsste ein eigener Klon erzeugt werden. Ein völlig neuer Ansatz soll dem Abhilfe schaffen.
Beitrag von Christian Dries

Link zu Thema

  • Embryonenschutzgesetz (ESchG) vom 13. Dezember 1990 (PDF-Version)
  • Stammzellgesetz vom 28. Juni 2002 (PDF)
  • Therapeutisches Klonen – Tierversuche und Versuche am Menschen
  • Reproduktives Klonen – Versuche an Mensch und Tier
  • Kurzfassung der Studie „Zellen, die die Politik bewegen“ der TA SWISS (PDF)
  • Klonierung beim Menschen. Biologische Grundlagen und ethisch-rechtliche Bewertung. Stellungnahme für den Rat für Forschung, Technologie und Innovation des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie. DFG-Pressedokumentation (1997). (PDF)

Zur Person

Christian Dries ist Chefredakteur dieses Magazins, Co-Autor des UTB-Lehrbuchs Modernisierungstheorie. Eine Einführung (erscheint im September) und Promovend an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Literatur

  • Christian Geyer (Hrsg.) 2001: Biopolitik. Die Positionen. Frankfurt/M.
  • Jürgen Habermas (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt/M.
  • Bernhard Irrgang (2005): Einführung in die Bioethik. München.
  • Hans Jonas (1987): Technik, Medizin und Ethik. Frankfurt/M.
  • Johannes Rau (2001): Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß. Berliner Rede des Bundespräsidenten. Frankfurt/M.
  • Thomas Zoglauer (2002): Konstruiertes Leben. Ethische Probleme der Humangenetik. Darmstadt.
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